Die antiken medizinischen Texte sind Quellen für die wissenschaftsgeschichtliche und kulturhistorische Forschung und zugleich Zeugnisse der griechischen und römischen Literatur. Im Rahmen der Prosa bilden sie einen bedeutenden Bestandteil der Fachschriftstellerei. Die ältesten vollständig erhaltenen Werke liegen in der Sammlung von Schriften vor, die unter dem Namen des koischen Arztes Hippokrates (um 460 - 370 v. Chr.) überliefert sind. Die Mehrzahl der etwa 60 Texte stammt aus dem 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert. Im ionischen Dialekt abgefaßt, zeigen sie eine Vielfalt literarischer Darstellungsformen, einen Reichtum behandelter Themen und Unterschiede in theoretischen Konzeptionen.
Zum ältesten Bestand der Schriftensammlung gehören Aufzeichnungen, die Angaben zu Symptomen und Verlauf von Erkrankungen enthalten ("Epidemien", Buch I und III), eine Abhandlung über die Bedeutung der Krankheitszeichen für das ärztliche Handeln ("Prognostikon") und zwei knochenchirurgische Werke ("Über das Einrenken der Gelenke", "Über Knochenbrüche"), die eine gute Kenntnis vom Bau des menschlichen Knochengerüstes bezeugen. In der Schrift "Über die Natur des Menschen" wird die klassische Form der Lehre von den vier Körpersäften Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle entwickelt, denen die Primärqualitäten Feucht / Warm, Feucht / Kalt, Trocken / Warm und Trocken / Kalt sowie die Jahreszeiten Frühling, Winter, Sommer und Herbst zugeordnet sind. Als physiologische Konzeption behielt diese Theorie, nach der die Gesundheit in der Ausgewogenheit der Säfte, die Krankheit in einer Störung des Mischungsverhältnisses besteht, weit über die Antike hinaus für das medizinische Denken ihre Bedeutung. Die Abhandlung "Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse" trägt dem Einfluß der Umweltfaktoren auf Gesundheit und Krankheit der Menschen Rechnung.
Gemeinsames Merkmal der hippokratischen Medizin ist die Auffassung, daß die gesunden und krankhaften Vorgänge im menschlichen Körper auf natürlichen Gegebenheiten beruhen und daß Erkrankungen mit rationalen Maßnahmen zu behandeln sind. Der Patient gilt dem hippokratischen Arzt als gleichberechtigter Partner, dessen Würde in jeder Beziehung zu wahren ist. Die erfolgreiche Behandlung einer Krankheit setzt das vertrauensvolle Zusammenwirken von Arzt und Patient voraus. Die ethischen Grundsätze der hippokratischen Medizin sind auch in der Gegenwart noch relevant.
Abgesehen von einzelnen Schriften der hippokratischen Sammlung, die erst im Zeitalter des Hellenismus entstanden sind, ist die medizinische Literatur dieser Zeit fast vollständig verlorengegangen. Daß das hellenistische Schrifttum umfangreich und gehaltvoll gewesen sein muß, ergibt sich aus der Benutzung durch spätere Autoren. Deren Rezeption des hellenistischen Erbes läßt erkennen, daß in der vorangehenden Periode besonders auf den Spezialgebieten Anatomie, Physiologie, Chirurgie und Pharmakologie beachtliche Fortschritte erzielt worden waren. Die Etablierung einzelner medizinischer Disziplinen spiegelt sich in überlieferten Schriftentiteln wider. Aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. sind für Herophilos von Chalkedon als Buchtitel "Anatomische Untersuchungen", "Über Pulse" und "Über die Augen", für Erasistratos von Keos "Über Fieber", "Über Verletzungen" und "Gesundheitslehre" bezeugt. Im 1. vorchristlichen Jahrhundert verfaßte Krateuas ein illustriertes Kräuterbuch, das ebenfalls nicht überliefert ist. Erhalten blieb dagegen aus derselben Zeit der mit Abbildungen ausgestattete Kommentar des Apollonios von Kition zu der hippokratischen Schrift "Über das Einrenken der Gelenke", mit dem an die hellenistische Tradition der Hippokratesexegese angeknüpft wird.
In Alexandria nutzten die Ärzte im 3. Jahrhundert v. Chr. die in der Antike einmalige Möglichkeit, anatomische Forschungen auf der Grundlage von Sektionen des menschlichen Körpers zu betreiben. Dieses Verfahren gestattete Korrekturen von Irrtümern, die sich daraus ergeben hatten, daß an Tieren erhobene Sektionsbefunde ohne Bedenken auf den Menschen übertragen worden waren. Die so gewonnenen genaueren Kenntnisse von der Lage und Struktur der Körperorgane beim Menschen hatten eine fördernde Wirkung auf die medizinische Praxis, speziell auf die operative Chirurgie.
Weitgehend auf hellenistischem Material basiert das 8 Bücher umfassende Werk "Die Medizin" des Aulus Cornelius Celsus, das während der Regierungszeit des Kaisers Tiberius (14-37) entstanden sein dürfte. Darin wurden den Römern zum erstenmal in lateinischer Sprache die Leistungen der griechischen wissenschaftlichen Medizin nahegebracht. "Die Medizin" ist der einzige vollständig überlieferte Bestandteil einer Enzyklopädie, in der außerdem die Disziplinen Landwirtschaft, Rhetorik, Philosophie, Militärwesen und Rechtswissenschaft mit Darstellungen vertreten waren. Erhalten geblieben sind von den übrigen Teilen nur Fragmente landwirtschaftlichen und rhetorischen Inhalts. Die gleichrangige Behandlung der genannten Fachgebiete im Rahmen eines enzyklopädischen Werkes spricht dagegen, daß der Autor Arzt gewesen ist. Der medizinische Teil orientiert sich an den Bedürfnissen der ärztlichen Praxis. In ihm sind die möglichen Behandlungsmethoden nach den Bereichen Diätetik, Pharmakotherapie und Chirurgie gegliedert.
Wenige Jahrzehnte später verfaßte der aus dem kleinasiatischen Anazarba stammende Arzt Dioskurides ein pharmakologisches Werk "Über Arzneistoffe" in 5 Büchern, die erste uns vorliegende systematische Darstellung dieses Gegenstandes. Auch dieser Autor hat das entsprechende Schrifttum aus hellenistischer Zeit ausgewertet, vieles aber auch aus eigener Anschauung heraus beschrieben. Die Darlegungen umfassen die Beschreibung von Arzneistoffen aus den drei Naturreichen sowie Angaben zu deren medizinischen Wirkungen und Anwendungsgebieten. In der späteren Tradition wurde der Text, was die Anordnung des Stoffes betrifft, verändert und mit künstlerisch hochwertigen Illustrationen ausgestattet.
Als älteste anatomische Schrift ist uns ein Lehrbuch zu diesem Spezialgebiet überliefert, "Über die Bezeichnung der Körperteile des Menschen", verfaßt von Rufus von Ephesos (um 100). In erster Linie sollen darin Kenntnisse der anatomischen Nomenklatur vermittelt werden. Die knappen Ausführungen enthalten aber auch Angaben zur Lage, Gestalt und Funktion der Organe. Von besonderem Interesse ist auch Rufus' Abhandlung "Die Fragen des Arztes an den Kranken", da sie nach unserer Kenntnis die einzige antike Schrift ist, die sich speziell mit der ärztlichen Anamnese befaßt.
Von dem etwas jüngeren Zeitgenossen Soran von Ephesos (um 120) ist als eines seiner wichtigsten Werke die "Gynäkologie" im griechischen Original erhalten geblieben, die bis ins Mittelalter hinein die Grundlage der frauenheilkundlichen Kenntnisse bildete. Der Verfasser schließt auch Geburtshilfe, Embryologie und Säuglingspflege in die Thematik ein. Sein Lehrbuch über akute und chronische Krankheiten liegt dagegen nur in der lateinischen Version des Caelius Aurelianus aus dem Beginn des 5. Jahrhunderts vor. Griechisch überliefert ist außerdem eine kurze Abhandlung "Über Verbände", die mit Illustrationen versehen ist.
Nach Umfang und Gehalt stellt das überlieferte medizinische Werk des Arztes Galen von Pergamon (129 - um 215) neben der Sammlung der hippokratischen Schriften den bedeutendsten Bestandteil der antiken medizinischen Literatur dar. In seinem Schaffen hat die selbständige medizinische Forschung im Altertum ihren Abschluß gefunden. Der von ihm vertretene eklektische Standpunkt ermöglichte es ihm, die Leistungen der Vergangenheit bei kritischer Bewertung in ein umfassendes medizinisches System zu integrieren. Dadurch ist in Galens Werk wertvolles Gedankengut aus den nicht erhaltenen Schriften seiner Vorgänger aufgehoben, mag dieses auch infolge seines eigenmächtigen Umgangs mit dem ihm vorliegenden Material oft nicht mehr in seiner authentischen Form faßbar sein.
Galen hat sich, bei unterschiedlicher Intensität, mit nahezu allen medizinischen Spezialgebieten beschäftigt. Selbständige Beiträge leistete er besonders in den Disziplinen Anatomie, Physiologie, Nosologie und Pharmakologie. Grundlage seiner Physiologie und Nosologie war die hippokratische Viersäftelehre, die er durch die Verknüpfung mit der von Aristoteles ausgebauten Vierelementelehre weiterentwickelte, indem er die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle und die als Grundbestandteile alles Seienden gedachten vier Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde zueinander in Beziehung setzte (Hauptquelle hierfür ist die Schrift "Über die Elemente nach der Auffassung des Hippokrates"). Das verbindende Glied bestand in der Zuordnung jeweils derselben Kombination von zwei Primärqualitäten zu einem Saft und einem Element. Durch diese Erweiterung des Viererschemas boten sich auch für das humoralbiologische Krankheitsverständnis Galens Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der in der hippokratischen Medizin gegebenen Ansätze.
Die Lehre von den vier Primärqualitäten und den vier Elementen bildete auch die theoretische Grundlage der Galenischen Pharmakologie, die er in seinem Werk mit dem Titel "Über Mischung und Wirkung der einfachen Heilmittel" geschaffen hat. Dadurch, daß er die Arzneistoffe mit denselben an die Elemente gebundenen Qualitäten ausgestattet sah wie die menschlichen Körper, gelang es ihm, die Pharmakologie in ein in sich geschlossenes medizinisches System zu integrieren. Die Wirkung der Heilmittel beruht nach seiner Auffassung auf den in ihnen vorherrschenden Primärqualitäten, die er nach der Intensität ihrer Wirkungen in vier Grade mit jeweils drei Abstufungen unterteilte.
Entsprechend seinem Grundsatz, daß die medizinische Forschung nur in der Einheit von empirischem Vorgehen und theoretischer Durchdringung erfolgreich sein kann, hat Galen in seiner Schrift "Über den Nutzen der Körperteile" die teleologische Betrachtungsweise zum Prinzip erhoben, wenn er mit der Darstellung der anatomischen Strukturen das Ziel verfolgt, deren funktionale Zweckmäßigkeit zu erweisen. Seine Kenntnisse vom anatomischen Bau der Körperteile beruhen auf eigenen Sektionen, die er, wie dem Werk "Über die Verfahrensweisen beim Sezieren" zu entnehmen ist, mit einem hohen Grad an technischer Perfektion an Säugetieren durchgeführt hat. Seiner Darstellung des Nervensystems liegen zum Teil Vivisektionen zugrunde, mit deren Hilfe er Ausfallerscheinungen durch Unterbrechung von Nervensträngen nachgewiesen hat.
In Galens Schriftstellerei nimmt die Hippokratesexegese einen breiten Raum ein. Mit ihr knüpfte er an die im Hellenismus entstandene Tradition an, die hippokratischen Texte, die klassische Geltung erlangt hatten, dem Verständnis der Zeitgenossen zu erschließen. Nach eigener Aussage hat Galen nur die von ihm als echt angesehenen Schriften kommentiert. Dazu gehören z.B. die "Aphorismen", Buch I-III und VI der "Epidemien", die Schrift "Über die Natur des Menschen" und die knochenchirurgischen Werke.
In der Spätantike und in frühbyzantinischer Zeit bestand das Anliegen der medizinischen Autoren im griechischsprachigen Raum vorwiegend darin, das in der Vergangenheit gewonnene Wissen in übersichtlicher Form zusammenzufassen, um es für die Anwendung in der ärztlichen Praxis zu bewahren. Der wissenschaftsgeschichtliche Wert der so entstandenen Handbücher besteht auch darin, daß in ihnen Exzerpte aus früheren Schriften verarbeitet wurden, die im Original nicht erhalten geblieben sind.
Das älteste dieser Werke sind die 70 Bücher umfassenden "Sammlungen medizinischer Texte" des Oreibasios, der in der Mitte des 4. Jahrhunderts als kaiserlicher Leibarzt am Hof in Konstantinopel tätig war. Im 6. Jahrhundert verfaßte Aetios von Amida ein ähnliches Sammelwerk in 16 Büchern, das unter den therapeutischen Maßnahmen auch magische Praktiken enthält. Zu den medizinischen Handbüchern mit praktischer Zielsetzung zählt auch die Schrift in 12 Büchern, in der Alexander von Tralleis etwa zu der gleichen Zeit die Erfahrungen seiner eigenen langjährigen Tätigkeit als Arzt zusammengefaßt hat. Durch gelegentliche Kritik an den Autoritäten der früheren Zeit erweist der Autor die Selbständigkeit seines Urteils. Als eine geraffte Darstellung der praktischen Heilkunde auf der Grundlage des medizinischen Schrifttums der Vergangenheit hat Paulos von Aigina (7. Jahrhundert) sein eigenes Handbuch verstanden, in dem in 7 Büchern alle Krankheiten unter den Gesichtspunkten Diagnose, Ätiologie und Therapie abgehandelt werden. Darin bezeugt er ausdrücklich seine literarische Abhängigkeit von Oreibasios.
Die vollständig oder in Fragmenten überlieferten frühbyzantinischen Kommentare zu Schriften des Hippokrates und des Galen sind literarische Zeugnisse besonderer Art, da es sich bei ihnen um Nachschriften mündlicher Lehrvorträge handelt. Sie sind Dokumente für den Unterrichtsbetrieb an den medizinischen Ausbildungsstätten in byzantinischer Zeit. Zu den akademischen Lehrern, die im 6. und 7. Jahrhundert in Alexandria tätig gewesen sind, gehören Stephanos von Athen und Johannes von Alexandria. Auf Stephanos' Vorlesungen beruhen die Erläuterungen zu den hippokratischen Schriften "Prognostikon" und "Aphorismen" sowie zum 1. Buch der Galenischen Abhandlung "Über die therapeutische Methode, Glaukon gewidmet", auf denen des Johannes Fragmente des Kommentars zu Buch VI der hippokratischen "Epidemien" und ein größeres Textstück vom Anfang der Interpretation der hippokratischen Schrift "Über die Natur des Kindes".
Im lateinischen Sprachraum war die medizinische Literatur in der ausgehenden Antike in noch höherem Grade als im Osten des Reiches an den praktischen Bedürfnissen orientiert. Auch hier zeichnet sich die Tendenz ab, den Heilmittelschatz der wissenschaftlichen Medizin um abergläubische Praktiken und Mittel aus der sogenannten Dreckapotheke zu erweitern.
Bei varuli, d.h. bei Gerstenkörnern an den Augen, bereitet man folgendes Heilmittel: Man zieht die Ringe von den Fingern ab, hält sie mit drei Fingern der linken Hand um das Auge herum, spuckt dreimal aus und sagt dreimal: RICA RICA SORO. Wenn sich am rechten Auge ein Gerstenkorn gebildet hat, hält man mit der linken Hand mit drei Fingern, während man unter freiem Himmel nach Osten sieht, das Gerstenkorn und sagt: Die Mauleselin gebiert nicht, und der Stein trägt keine Wolle, Zaubersprüche aus Marcellus, Über Heilmittel 8,190f.: CML V, S. 161 |
Zumeist auf älteren Quellen basiert die Rezeptsammlung mit dem Titel "Über Heilmittel", die Marcellus von Bordeaux, ein hoher Staatsbeamter, um 400 als Laie für Laien zusammengestellt hat. In ihr sind, durch die Herkunft des Autors bedingt, Spuren keltischen Sprachgutes erhalten geblieben. Etwa aus der gleichen Zeit stammt das von Theodorus Priscianus verfaßte Werk "Leicht beschaffbare Heilmittel", das in drei Büchern Mittel für äußere, innere und gynäkologische Krankheiten aufführt. Griechische Vorlagen benutzte um die Mitte des 5. Jahrhunderts Cassius Felix für die Zusammenstellung seiner Schrift "Über die Medizin", die nach der Intention ihres Verfassers alles enthalten soll, was sich für die Behandlung des menschlichen Körpers als geeignet erwiesen hat.
Text: J. Kollesch, D. Nickel
vgl. Broschüre Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum, Berlin 2004
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