Von der Handschrift zur Edition (Einführung)

Ebenso wie bei allen anderen antiken literarischen Werken besteht das Ziel der editorischen Arbeit an den medizinischen Schriften darin, mit dem vorgelegten Text dem Original, wie es vom Autor intendiert war, möglichst nahezukommen. Voraussetzung dafür ist eine kritische Prüfung sämtlicher Überlieferungsträger, mit der die Tradition bis in die Zeit zurückverfolgt wird, der der älteste Textzeuge angehört.

Den Hauptbestandteil der Überlieferungsträger bilden bei den medizinischen Texten die mittelalterlichen Handschriften, die in der Mehrzahl aus dem Zeitraum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert stammen, in einer Reihe von Fällen bis in das 10. und ausnahmsweise bis in das 6. Jahrhundert zurückgehen. Daraus ergibt sich, daß zwischen der Zeit der Niederschrift der uns vorliegenden Handschriften und der Abfassung der zu edierenden Texte selbst im günstigsten Fall eine Spanne von mehreren Jahrhunderten liegt, in denen die Schriften in ihrer Tradition Veränderungen unterworfen waren. Da es sich bei den medizinischen Werken um Gebrauchstexte für Ärzte handelte, beschränken sich diese Veränderungen nicht auf die üblichen Schreibversehen (Verschreibungen, Wortersetzungen, Auslassungen, Zufügungen, Umstellungen), sondern schließen bewußte Eingriffe in den Text im Sinne einer sachlichen Aktualisierung mit ein.

Außer den Handschriften kommen im medizinischen Bereich Exzerpte bei späteren Autoren und speziell bei den griechischen Texten spätantike Übersetzungen ins Lateinische sowie Übertragungen ins Arabische und Hebräische als Zeugen der Überlieferung in Betracht. Sie können von besonderem Wert sein, weil sie eine Traditionsstufe repräsentieren, die zeitlich derjenigen vorausgeht, die in den Handschriften vorliegt. In geringem Umfang haben sich auch Papyri mit kleineren Textstücken erhalten, die ebenfalls zu berücksichtigen sind. Textkritisch auszuwerten sind ferner die im Mittelalter und in der Humanistenzeit angefertigten lateinischen Übersetzungen griechischer Schriften, die frühen Drucke und alle übrigen bisher erschienenen Editionen.

Der erste Schritt der editorischen Tätigkeit ist das Kollationieren aller den Text enthaltenden Handschriften. Durch den sich anschließenden kritischen Vergleich der festgestellten abweichenden Lesarten werden die Abhängigkeitsverhältnisse der Kodizes ermittelt. Die Verwandtschaft mehrerer Handschriften ergibt sich aus dem Auftreten gemeinsamer Fehler. Sie lassen den Schluß zu, daß eine jüngere Handschrift dieser Gruppe mit ihrem Text, sei es direkt, sei es über Zwischenstufen, auf einen älteren Repräsentanten derselben Gruppe zurückgeht oder daß beide, unabhängig voneinander, dasselbe Versehen einer gemeinsamen Vorlage reproduzieren, die entweder erhalten sein kann oder zu erschließen ist. Andererseits ist der Sachverhalt, daß andere Zeugen an der betreffenden Stelle den richtigen Text bieten, ein Kriterium dafür, daß sie von dieser Gruppe unabhängig sind. Die Anwendung dieses Verfahrens führt schrittweise zur Feststellung der unabhängigen Überlieferungsträger, die für die Textkonstituierung maßgeblich sind. Je größer die Zahl unabhängiger Handschriften ist, desto eher ist die Möglichkeit gegeben, deren Sonderlesarten als Fehler zu erkennen und den ursprünglichen Wortlaut zu ermitteln. Die Abhängigkeitsverhältnisse der Textzeugen lassen sich in einem Stemma ("Stammbaum") veranschaulichen. Diese graphische Darstellung ist - besonders bei komplizierten Überlieferungsverhältnissen - nicht nur für den Benutzer einer Ausgabe, sondern auch für den Editor selbst eine notwendige Orientierungshilfe.

Die aus dem Vergleich der Kodizes gewonnene Textfassung ist ihrerseits noch mit Korruptelen behaftet, die im Verlauf der den Handschriften vorausgehenden Überlieferung eingetreten sind. Es ist Aufgabe des Herausgebers, diese Textverderbnisse ausfindig zu machen und nach Möglichkeit zu emendieren. Daß eine Textstelle korrupt ist, ergibt sich unter anderem aus sprachlichen und sachlichen Unstimmigkeiten. Um sie erkennen und beseitigen zu können, muß der Textbearbeiter mit dem Sprachgebrauch des Autors und mit seiner Vorstellungswelt vertraut sein. Anhaltspunkte für die Emendation sind in günstigen Fällen aus den Zeugen der Nebenüberlieferung, den Exzerpten, den Übersetzungen oder auch den Papyri, zu gewinnen. Läßt sich die verderbte Textstelle nicht korrigieren, so wird der Sachverhalt der Korruptel im Text durch textkritische Zeichen ausgewiesen.

Text: J. Kollesch, D. Nickel
vgl. Broschüre Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum, Berlin 2004
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